Warum interessiert sich ein Skeptiker für Tarot? Häufig herrscht das Vorurteil, dass jede und jeder, der sich mit dem Tarot befasst, das aus „spirituellen“ Gründen tut. Auf eine gewisse Weise tritt Simon Kenny an, das zu widerlegen — er wurde christlich und anti-esoterisch erzogen und wandelte sich dann zum anti-esoterischen Materialisten und Skeptiker. Vom Paulus zum Saulus, quasi. Diese sehr spannende und sympathische Geschichte erzählt der Autor auf Medium.
Leider hat das Buch einige Schwächen, weshalb ich eine Lektüre nur eingeschränkt empfehle. Wer die Sichtweise des Autors und den Fokus seiner Aufsätze — denn bei diesem Buch handelt es sich vor allem um eine lose miteinander verwobene Essay-Sammlung zu einzelnen, das Tarot berührenden Themen — nachvollziehen will, sollte in den durchaus inspirierenden, kostenlosen „Cultural Reader to the Tarot“ (PDF) gucken.
Kurzrezension
Die Grundidee des Buches ist gut: aus einer skeptischen Perspektive das soziale, psychologische und „alltägliche“ Phänomen Tarot betrachten. Hierzu wäre aus meiner Sicht aber mehr Empirie nötig gewesen: Wer benutzt wann und wozu das Tarot? Welche Praktiken lassen sich identifizieren? Welche Gruppen, Klassen, Schichten, Netzwerke, Kulturen werden davon angesprochen, und was steckt dahinter? Kurz: Mir fehlt — wenig überraschend — eine soziologische Herangehensweise, und sei es nur zum Nachweis der Relevanz des Themas.
Das ist umso bedauerlicher, als Kenny einige Größen der Tarot-Welt interviewt hat — hier liegt ungenutztes investigatives Potenzial. Dabei hätte er auch tiefer die problematischen Aspekte esoterischer Konzepte wie „Manifestation“ sowie die kapitalistische Verwertung von Tarot als mediales und kommerzielles Thema in den Blick nehmen können.
Viele „Exkurse“
Stattdessen springt Simon Kenny leider etwas zu häufig durch verschiedene, eher lose mit dem Tarot zusammenhängende Themenbereiche: Die Exkurse
- zur Metaphysik (20 Seiten),
- zu C.G. Jung und bestimmten Wegen der Psychoanalyse (18 Seiten),
- zur Gematria, Kabbalah und Zahlenmystik (18 Seiten),
- zur Erkenntnistheorie („Layers of Meaning“, 17 Seiten)
sind für sich genommen alle sehr interessant. Es fehlt nur leider jeweils wieder die Rückführung zum Thema: Wieso ist das wichtig, um zu verstehen, wie heute empirisch mit dem Tarot umgegangen wird? Zudem kann man beim numerologischen Kapitel einwenden, dass Kenny eine einzelne numerologische Deutung des Tarot präsentiert, ohne sie in die diversen Deutungstraditionen und deren Unterschiede einzubetten. Wieso ist es offenbar bei esoterischen Konzepten wichtig, dass sie einerseits eindeutig, andererseits so wandelbar sind? Diese und verwandte Fragen möchte ich von einer Untersuchung der „Nature of a Belief in Tarot“ beantwortet haben.
Der Exkurs über Wahrscheinlichkeiten — wie häufig kann man statistisch die gleiche Karte ziehen und wie oft muss man ein Deck Riffle-Shufflen, um es „unordentlich“ zu machen? — trägt leider auch nicht viel zur Klärung des Problems bei; denn sowohl Tarot-Anhänger als auch Skeptikerinnen werden dieses statistische Problem für irrelevant halten.
Politik und Tarot: Also doch eine „subversive“ Technik?
Vorweg gesagt: Die Perspektive des Buches ist sehr amerikanisch und insbesondere geprägt durch die evangelikal-christliche „satanic panic“, wenn es etwa um die Frage geht, wieso Hexer und Kartenlegerinnen unter Generalverdacht stehen:
„The Christian fear of diabolic influence is often expressed as a fear of occult symbols […], and this superstition is adjacent to conspiracy thinking. In a culture of unseen ‘spiritual warfare’ over the souls of humanity, these are the sleeper cells, spies, and spiritual cyber-attacks of Satan.“
In den Kapiteln zur politischen Verwendung des Tarot geht es dann vor allem um den Einsatz in gegenkulturellen Subkulturen — ein sehr spannendes Thema, das mich auch beschäftigt. Hierzu finden sich zahlreiche weitere Rechercheideen, von der Frauenbewegung über die Hippies bis hin zu Trans- und Queer-Aktivismus. Leider wird ihnen nur relativ kurz nachgegangen. Stattdessen hätte Kenny auf eine Einführung ins Freimaurertum wiederum eher verzichten können.
Insgesamt enthält mir das Buch leider viel zu viele „Exkurse“ und zu wenig „Eigentliches“.
Fazit
Die Idee, als Skeptiker und Ungläubiger ein offenes und akzeptierendes Buch über das Tarot zu schreiben, ist genial. Leider muss dieses Buch weiterhin erst noch geschrieben werden.
Bewertung: Sieben der Scheiben.
Siehe auch
Es gibt eine Rezension bei Traditional Tarot.