Eine Leserin stellte die folgende Frage:
Ich habe mehrere Decks, und zu diesen Decks mehrere Begleithefte oder Bücher. Sowohl zwischen den Decks als auch zwischen den Büchern unterscheiden sich die Deutungsvorschläge enorm. Wieso?
Nehmen wir zur Beantwortung dieser Frage ein Beispiel: Die Tageskarte ist Trumpf XV aus dem „Deviant Moon“-Tarot. Die (übersetzte) Bedeutung aus dem Begleitheft ist Unterdrückung, Obsession, böse Fantasien. Ganz anders die Bedeutung, die dem gleichen Trumpf von Hajo Banzhaf und Akron im Crowley-Tarot beigemessen wird: Hier lesen wir von Trieben, Sexualität, aber auch vom Kampf gegen das Böse und dem Mephistophelischen „Die Kraft/die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.
Weitere Interpretationen, etwa im Witchy Cauldron-Erklär-Tarot (Bezug zum Waite-Tarot), sind wiederum sehr negativ: Sucht, Depression, Gefangenschaft. Ambivalenter und differenzierter heißt es in „TAROT – Spiegel deiner neuen Zeit“ (wiederum auf das Crowley-Deck bezogen): Intuition, Erfahrung, Kontrolle, Stolz, Verstrickung.
Insbesondere bei einer so polarisierten Figur wie dem Teufel ist es sinnvoll, alle diese Seiten zu betrachten und zu versuchen, sie zu integrieren. Symbole sind ja gerade dazu da, keine eindeutige, sondern eine mehrwertige Aussage zu repräsentieren. Wir könnten auf die Ambivalenz eines starken, materiell-sexuellen Triebes schließen. Das entwertet keine der in den Büchern beschriebenen Deutungen, nur die Behauptung von deren Eindeutigkeit.
Wieso nun unterscheiden sich die Karten je nach Deck? Das liegt natürlich einerseits an der Präferenz der jeweiligen Autorinnen bzw. Illustratorinnen, andererseits an der generellen Ausrichtung der Decks. Im Crowley-Thoth-Tarot finden sich meist sehr viele Symbole und Attribute relativ eigenständig. Im Waite-Smith-Tarot dagegen haben wir eine eher einheitliche Jugenstil-Repräsentation. Andere Decks — wie das hier erwähnte Deviant-Moon-Tarot — bauen auf völlig anderen Symbolwelten auf. Hier können subjektive Deutungen und Assoziationen der Urheber einen größeren Einfluss haben als die „traditionelle“ Bedeutung einer Karte. Das macht die Tarot-Interpretation wenig systematisch, aber dafür spannender.