Ich suche seit langem nach Ansatzpunkten einer „Soziologie der Magie“, worunter ich alles zusammenfasse, was weder ganz in den Bereich der Religion noch der Wissenschaft fällt, aber Strukturmerkmale dieser Felder (oder Systeme) besitzt. Und wenn ich sage: nicht in den Bereich der Religion oder Wissenschaft fallen, dann meine ich vor allem, dass diese Felder nichts mit der Magie zu tun haben wollen: Wissenschaft behauptet selten, „magisch“ zu sein, und Religion auch nicht.
Wohl aber beanspruchen Vertreterinnen der Magie regelmäßig, „wissenschaftlich“ vorzugehen und sich auf religiöse Wahrheiten zu stützen. Damit haben wir auch einen ersten Hinweis, worum es geht: um Wahrheit(en) und damit um legitimes Wissen. (Dies soll nicht leugnen, dass sich andere Felder, Politik und Kunst etwa, die Magie zu Nutze machen können, oder dass sie auch immer rückgekoppelt ist an Wirtschaft.)
„Magie“?
Warum nenne ich das „Magie“ und nicht Esoterik, Okkultismus, Spiritualität? Weil ich denke, dass wir ihren Mustern und Strukturen zum Beispiel auch dort begegnen, wo es um „magisches Denken“ geht, ohne, dass damit zwingend eine okkulte Semantik einhergehen muss. Der große Trend „Materialisieren“ ist eine Form von Magie; muss sich aber nicht zwingend auf Dämonologie, Engelsglauben, Räucherwerk, Pendeln, Kristalle stützen, sondern kann sehr „clean“ und Apple-Design-konform daherkommen oder als Multi-Level-Marketing-Scam der Autosuggestion, wie man ihn auch in der Finanz- und Versicherungswelt findet. Hier sind wir vielleicht auch in der Sphäre der „Zauberei“ wie in „Bühnenzauber“.
Das Feld der Magie ist sehr vielfältig und vergleichbar schwer zu strukturieren wie das der Wissenschaft oder der Religion. Daher ist es sinnvoll, sich auf eine Funktion zu konzentrieren: die Konstitution von Wissen, das
- praktisch anwendbar,
- dadurch als „wahr“ nachgewiesen,
- aber irgendwie verborgen oder unerkannt und geheim ist.
Fast immer wird dann auch eine Theorie oder Geschichte angeboten, wieso das funktioniert: „Attraktion“, Ähnlichkeit, Assoziation, Korrespondenz; Geister, Götter, Dämonen; oft im Gewand gegenwärtiger Wissenschaft (Stichwort: Quantenesoterik).
Das heißt auch: Aspekte des Magischen können jederzeit ins Religiöse oder Wissenschaftliche aufgenommen werden (etwa die Alchimie in die Chemie); und religiöse oder wissenschaftliche Gewissheiten können aus deren Kanon hinausfallen und nur noch „magisch“ gültig sein (etwa die Äther-Lehren, Magnetismus, Kreationismus).
Magie-Definitionen
Sehen wir uns vor der Erstellung einer Bibliographie noch schnell einige Definitionen an.
Levi
Eliphas Levi schreibt in „Transcendental magic, its doctrine and ritual“ (1896):
Magic is the traditional science of the secrets of nature which has been transmitted to us from the magi.
Einerseits wird hier also Bezug genommen auf alte Autoritäten: Magie ist dann Magie, wenn sie von „den Magi“ abstammt. Andererseits erhalten wir die Sachdefinition, dass es sich um eine „Wissenschaft der Geheimnisse der Natur“ handelt. Die Frage ist, worin sich das — außer durch die spezifischen referenzierten Autoritäten — von „Wissenschaft an sich“ unterscheidet; auch diese versucht seit jeher, den Geheimnissen der Natur auf die Schliche zu kommen. Wichtig ist hier aber: Der Bezugspunkt der Magie ist ein äußerer — Magie dient der Erkenntnis über Natur.
Crowley
Aleister Crowley definiert: „Magick ist die Wissenschaft und Kunst, Veränderung im Einklang mit dem Willen herbeizuführen.“ Und seine eigene Magietradition und Weltanschauung Thelema beschreibt er als Amalgam von Wissenschaft und Religion: „The method of science, the aim of religion“ — was sich freilich auch umkehren ließe: Man könnte Magie auch verstehen als den Versuch, die Mittel der Religion (Ritual, Gebet) einzusetzen, um die Ziele der Wissenschaft (Weltaneignung, „Weltbeherrschung“) zu verfolgen.
Bei Crowley geht es also vor allem um eine Form der aktiven Teilnahme und Einflussnahme an der und auf die „Welt“ — wobei Welt mehr meint als nur die wahrgenommene Umwelt eines Subjekts. Sie meint alles Sichtbare und Unsichtbare.
Fortune
Bei Dion Fortune finden wir dann (etwa ab 1930): “Magic is the art of changing consciousness at will.” Hier nun ist es also eine innerliche, fast schon psychologisch anmutende Wirkung, die der Magie zugeschrieben wird. Klar, in einem stark idealistischen und dualistischen Weltbild, wie es in magischen Kreisen vorherrschen dürfte, ist „Bewusstsein“ nie nur eine subjektive Wahrnehmung, ähnlich wie Crowleys „Wille“ mehr als nur eine innere Motivation ist. Aber gerade in der Rezeption ist diese Deutung sehr anschlussfähig an eine Verinnerlichung des Magischen.
Nebenbei bemerkt: Auch in der gegenwärtigen Vorstellung von „Gott“ sehen wir eine mehrfache Verinnerlichung. Seitdem klar ist, dass wir „Gott“ nicht durch die Kartierung der Weltmeere näherkommen und vermutlich auch nicht durch interstellare Reisen, wird „Er“ oder „Sie“ wahlweise zu einer Funktion unserer Psyche oder unseres Gehirns (Stichwort: Mystik durch Temporallappen-Epilepsie). Doch genug der Vorreden und Abschweifungen.
Eine Bibliographie zur „Soziologie der Magie“
Um nun einer „Soziologie der Magie“ oder „Magie der Gesellschaft“ etwas näher zu kommen, hat man zwei Möglichkeiten: Man studiert magischen Glauben, okkulte Praxen (bzw. „magische Technologien“), esoterische Trends aus den „Primärquellen“; oder man versucht, sich auf bereits existierende soziologische Ansätze zu konzentrieren. Diese Website widmet sich dem ersteren Ansatz am Beispiel des Tarot; die folgende Liste folgt eher letzterem.
Einige Einträge erfassen lediglich bibliographische Angaben, andere sind ausführlich kommentiert oder sogar in sehr kurzer Form besprochen. Falls ich an anderem Ort bereits etwas zum Buch oder Aufsatz geschrieben habe, verlinke ich es nur.
Diese Liste wird laufend fortgesetzt. Für Hinweise auf weitere Autorinnen, Werke und Bibliographien bin ich dankbar (am liebsten per Mail)!
Die Klassiker: Religionssoziologie
Unglücklicherweise sind die meisten Ursprünge der soziologischen Forschung zu Ritualen, Praxen (oder Technologien) und Denkweisen des Okkulten und Magischen in der Religionssoziologie zu finden — das vereinnahmt die Magie m.E. illegitimerweise für die Religion.
Emile Durkheim
1915. The Elementary Forms of Religious Life: A Study in Religious Sociology. London: Allen & Unwin. Retrieved April 4, 2013, from http://archive.org/details/elementaryformso00durkrich
Max Weber
- Die Soziologie der Religion
- Die Protestantische Ethik: Auch wenn die Magie hier als Gegensatz zum Rationalismus auftritt, bleibt dies die wichtigste Schrift über die Rolle von nicht-wissenschaftlichen Weltdeutungen für Gesellschaft.
Georg Simmel
The Sociology of Secrecy and of Secret Societies. American Journal of Sociology, Volume 11, Issue 4 (Jan., 1906), 441-498.
Marcel Mauss
mit Henri Hubert: „A General Theory of Magic“ (1902)
Weitere anthropologische, historische und soziologische Schriften
- Bronisław Malinowski: (1948). Magic, Science and Religion and Other Essays. Glencoe, Illinois: The Free Press (Reissued Long Grove, IL: Waveland Press, 1992).
- Frazer: „The Golden Bough“
Mircea Eliade
- Ewige Bilder und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik. Inselverlag, Frankfurt am Main/Leipzig 1998.
- Mythen, Träume und Mysterien. Müller, Salzburg 1961.
- Occultism, witchcraft and cultural fashions : essays in comparative religions. University of Chicago Press, London 1976.
Contemporaries
Diese Kategorie umfasst soziologische oder sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen ab den 1970er Jahren, als die Kultur- und Sozialwissenschaften auf die New-Age-Bewegung und deren Adaption in den Mainstream reagierten.
Marcello Truzzi (1935–2003)
„Basically, the sociology of the occult must be considered as a subdivision of the sociology of knowledge where it has important implications for its companion subfields, the sociologies of religion and science.“ (Towards a Sociology of the Occult: Notes on Modern Witchcraft, 1975)
Truzzi schrieb als „Skeptiker der Skeptiker“ diverse Aufsätze zu übernatürlichen Phänomenen, aber auch zu Sherlock Holmes und dem Schachspiel. Seine „Soziologie des Okkulten“ ist ein spannender und vielzitierter Ausgangspunkt. Darin findet sich auch eine Typologie der „Okkultisten“: Der erste Typ interessiert sich für ein unerklärliches Phänomen; der zweite für den unerklärlichen Zusammenhang zwischen erklärbaren Phänomenen; der dritte Typ baut ein komplexes, alternatives, (über-) kohärentes Weltbild aus Überzeugungen der anderen beiden Typen. Spätestens im zweiten Typus haben wir also eine Form von „Magie“ vorliegen, wie ich sie oben definiert habe. (An UFOs zu glauben macht noch keine Magie, aber das Wachstum einer Topfpflanze auf ihren Einfluss zurückzuführen vermutlich schon.)
Ansonsten geht es im Aufsatz um eine soziologisch fundierte Typologie der Hexen und Satanismen sowie deren empirischen Nachweis. Tarot würde hier im Übrigen vor allem als mehr oder weniger in ein Weltbild integrierte „magische“ bzw. „divinatorische Technologie“ fallen. Der Aufsatz ist an einigen Stellen freilich sehr veraltet, insbesondere in Bezug auf Vernetzung, Informationsaustausch und Kommunikation in okkulten Gruppen, da er die neuen elektronischen Verbreitungsmedien noch nicht einbeziehen konnte.
Colin Campbell
Campbell beschreibt „The Cultic Milieu“ als eine Art von „Netzwerk“. In „The Cultic Milieu Revisited“ (2012) schreibt er:
[Cults look like they are] defined in entirely negative terms, for not only was it a form of religious organization that was not a church, sect, denomination or ecclesia but it was also a form of social organization that most closely resembled a non-group; a non-group of people who, what is more, held beliefs that were not orthodox.
Diesen Aspekt finde ich vor allem der oppositionellen und subversiven Möglichkeiten wegen spannend: „loosely structured groups of spiritual ‘seekers’ that require less fidelity than traditional religions or sects and are oppositional to the dominant orthodoxy in their beliefs or practices“.
Weitere
- Niklas Luhmann (posthum, 2000): Die Religion der Gesellschaft
- Knoblauch, Hubert (2009): Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Campus, Frankfurt am Main.
- Knoblauch, Hubert (2003): Qualitative Religionsforschung, UTB, Paderborn.
- Klotz, Lisa Jane (2017): Quantenphysik und Esoterik. Über die innere Notwendigkeit renitenten Randgeschehens für die Autopoiesis von Funktionssystemen. Transcript
Esoterik-Analysen
In dieser Kategorie finden sich auch diverse Titel, Autorinnen und Autoren, die eher kulturwissenschaftlich oder kunsthistorisch arbeiten.
Tarot-Geschichte und -Deutung
- Stuart Kaplan: Encyclopedia of Tarot, 4 Bd., 1978
- Decker, Ronald, & Dummett, Michael. 2002. A History of the Occult Tarot, 1870-1970. London: Duckworth.
- Decker, R., Depaulis, T., & Dummett, M. 1996. A Wicked Pack of Cards: The Origins of the Occult Tarot. New York: St Martin’s Press.
- Farley, H. 2009. A Cultural History of Tarot. London: I.B. Tauris (Review)
- Ivtzan, Itai. 2007. Tarot cards: A literature review and evaluation of psychic versus psychological explanations. Journal of Parapsychology 71 (Spring): 139-149
- Mike Sosteric: „A Sociology of Tarot“
Generelle Studien zur Esoterik
- Hammer, Olav. 2004. Claiming Knowledge: Strategies of Epistemology from Theosophy to the New Age. Leiden: Brill
- Hanegraaff, Wouter, J. 2005. Forbidden knowledge: Anti-esoteric polemics and academic research. Aries 5 (2): 225-54.
- Haanegraaff: Western Esotericism: A Guide for the Perplexed
- Jorgensen, Danny L. 1982. The esoteric community: an ethnographic investigation of the cultic milieu. Journal of Contemporary Ethnography 10: 383-407.
- Jorgensen, Danny L., & Jorgensen, Lin. 1982. Social meanings of the occult. The Sociological Quarterly 23 (3): 373-389
- Versluis, Arthur. 2007. Magic and Mysticism: An Introduction to Western Esotericism. New York: Rowan and Littlefield
- Christopher Partridge
- The Encyclopedia of New Religions: New Religious Movements, Sects and Alternative Spiritualities (Lion Hudson Plc, 2006)
- The Lure of the Dark Side: Satan & Western Demonology in Popular Culture (Equinox Publishing Ltd, SW11, 2008)
- The Re-Enchantment of the West: Alternative Spiritualities, Sacralization, Popular Culture and Occulture, Vol I and Vol II, (T. & T. Clark Publishers, 2006)
- Per Faxneld: „Satanic Feminism: Lucifer as the Liberator of Woman in Nineteenth-Century Culture“. 2014
- Mark Sedgwick: Against the Modern World: Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century. Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-515297-2.
Kommentare
Eine Antwort zu „Eine Soziologie der Magie: Bibliographische Sammlung“
[…] Anyways: Womit befasse ich mich auf tarot-guide.de? Mit den ersten Ansätzen zu einer Analyse von Praktiken des Esoterischen, könnte man sagen. Und zwar sehr spezifisch am Beispiel des Tarot. Warum Tarot? Weil ich das a) schon immer spannend fand, es b) hübsch ist und c) hier m.E. die Bereiche/Felder/Systeme Magie, Religion, Mythos und Kunst einzigartig zusammenkommen. Was meine ich mit Magie? Ich zitiere mich kurz selbst aus der Einleitung zu einer Bibliographie: […]