Mike Sosteric: „A Sociology of Tarot“

The persistence of the tarot may, as we have seen, be linked not only to elite machination, infantile fantasy, or opiate derived delusion, but also to basic human needs, needs that are not filled by the empty secularity of an ‘enlightened’ world. (S. 381)

Es gibt nicht viele soziologische Überlegungen zum Thema Tarot. Umso erfreuter war ich über diesen Fund (verfügbar u.a. via JSTOR).

Die Fragen: Inwiefern hängen

  • die Entwicklung des Bürgertums und das Ende der Feudalherrschaft,
  • die Industrialisierung,
  • der Aufschwung der Psychologie und Psychoanalyse

mit dem Tarot zusammen? Mike Sosteric wagt eine machtkritische und „soziologische“ Analyse in seinem Aufsatz „A Sociology of Tarot“ (2014).

Kurzkritik

Sosteric plädiert eingangs dafür, dem Tarot einen Platz im Soziologie-Curriculum zu geben. Warum?

In this paper we see that the Western tarot became a weapon used in an esoteric (i.e., secret) class war by ruling elites to regain the power they lost as Church authority, and elite authority in general, were dismantled during the eighteenth and nineteenth centuries as a result of the English, French, and scientific revolutions.

Ein wesentlicher Schritt dahin, das Tarot als „Machtinstrument“ zu gebrauchen, besteht nach Solsteric in dessen Inszenierung als geheimer Wissensspeicher und als Speicher geheimen Wissens.

Das lässt sich meines Erachtens noch heute beobachten: Diverse Tarot-Coaches und ganze Verlage verdienen ihr Geld damit, die Bedeutsamkeit des Tarot für die Persönlichkeitsentwicklung (und gegenwärtig ganz mundan: für weltlichen Erfolg) zu betonen — und dann den Schlüssel zu verkaufen, der den hermetischen Bildern diese Funktion abringt.

Esoterik und Macht

Während das heute aber eher ökonomischen Gründen dient, analysiert Solsteric die Machtkomponente dahinter: Das Tarot wird erst zum Zeitpunkt der französischen Revolution vom Kartenspiel zum „magischen“ Gegenstand, was Solsteric einerseits auf die Aneignung durch Geheimkulte (Freimaurer, später okkulte Orden) und andererseits auf die Umwälzungen dieser Zeit zurückführt.

Diese Umwälzungen machten es notwendig, neue Formen der Kontrolle, des Gehorchens und genereller des Verhaltens durchzusetzen; aus Feudalherrschaft wurde „Bürokratie“. Und Vereine wie die Freimaurer waren genau die Vergesellschaftungsformen, die diese Verhaltensformen (auch metaphysisch) legitimierten und vorlebten

Freemasonry was very popular in the late seventeenth and early eighteenth centuries, a time when feudal methods of control and discipline were dissipating and new forms were required. Freemasonry provided discourses of authority, a disciplinary ethic, and provisions for mutual surveillance and social discipline, all rooted in and inspired by Calvinism and ascetic Protestant ethics
(S. 367)

An dieser Stelle sei bemerkt, dass ich nicht sicher bin, inwieweit hier nicht der Einfluss der Logen überschätzt wird. Aber auch, wenn man sie nicht als Ursache, sondern als Ausdruck von veränderten Machtverhältnissen deutet, sind sie interessante Analyseobjekte.

Tarot und Kontrolle

Warum aber wurde gerade das Tarot so erfolgreich in den Geheimbünden und Logen? Sosteric macht drei Komplexe aus, die dazu betrugen:

(a) the allegorical meaning of the images, a meaning linked to the Italian courts of the fifteenth century,
(b) their suitability as an imaginative device capable of absorbing additional meaning, and
(c) their suitability for ideologically impregnated drama.
(S. 369f)

Der erste Punkt erklärt die Faszination elitärer Kreise — wozu Logenbrüder und Kultmitglieder gezählt haben dürften. Der zweite erklärt aber auch, warum die Karten als „Archetypen“ über ihre wörtliche Bedeutung hinaus fasziniert haben: „Die Kaiserin“ ist eben nicht einfach nur eine Angehörige der höchsten Adelskaste, sondern darüber hinaus ein Symbol (bspw. für Mütterlichkeit). Durch diesen „Sinnüberschuss“ war immer ein Bezug herzustellen.

Das dritte Argument ist vielleicht das interessanteste. Sosteric bezieht es vor allem auf das Mysterienspiel, das Initiations-Drama der Logen. Wenn man bestimmte (vor allem psychoanalytische) Therapieformen aber ebenfalls als „Mysterien“ begreift, erklärt es auch ein Stück weit die Amalgamierung von Tarot und Psychologie. Und darüber hinausgehend verweist es vielleicht auch auf die modernen, individualisierten Praxen der „Spiritualität“: Man wird nicht mehr durch eine Gruppe in Geheimnisse eingewiesen, sondern durch Selbststudium (möglicherweise unter Zuhilfenahme kommodifizierten „Mentorings“ oder Studienratgeber).

Aufschwung des Tarot

Spätestens im 19. Jahrhundert konstatiert Sosteric dann eine aktive Gestaltung des Aufschwungs der 78 Karten: Nahezu alle Esoteriker, Okkultisten und Magier arbeiteten zusammen, um das Tarot zur absoluten mytischen Autorität zu machen. Eine wesentliche Rolle dabei spielen die „Gründungsmythen“ (siehe auch „Eine kurze Geschichte des Tarot„) wie eine Abstammung aus Atlantis oder Ägypten. (Es sei am Rande bemerkt, dass Helena Blavatsky und die frühe Theosophie meinen Recherchen zu Folge hieran kaum beteiligt war; hier überwog das medial-spiritistische Moment.)

Die Ideologie des Tarot

Kernstück des Aufsatzes ist die Analyse (ab S. 373) der laut Sosteric im Tarot „eingravierten“ Ideologie: einer (Zwei-) Klassenideologie einer spirituellen Elite, die eine nicht-erleuchtete Masse regiert. Psychoanalytische Deutungen, komplizierte „magische Rhetorik“ und einige Legitimierungsstrategien verbergen das vor einem kritischen Zugriff; es ist „hidden in plain sight“, wie Sosteric betont. Damit ist es auch ein Lehrstück in der Etablierung randständigen, aber von diesem Rand aus gültigen Wissens. (Und das erklärt, warum Sosteric dem Tarot hier keine emanzipatorische Wirkung zubilligen kann: Das Tarot wirkt gerade nicht aufklärerisch, indem es die Klassenverhältnisse abbildet, sondern darstellend und „verdunkelnd“.)

Dieser Kern enttäuscht zunächst bei der Lektüre, zumal er eine sehr einseitige „proletarische“ Klassenrolle einzunehmen scheint (um den marxistischen Term zu nutzen). Sosteric weist dem Tarot hier eine strikt konservative, die bestehenden Verhältnisse rechtfertigende Funktion zu. Dabei übersieht er einerseits, dass dem Tarot eine ambivalente und daher auch subversive Funktion zukommen muss — schließlich hat er die Rolle des Tarot bei der Überwerfung des Feudalsystems selbst hervorgehoben. Andererseits muss man bei Autoren wie Aleister Crowley nicht lange danach suchen, wo der soziale und kulturelle subversive Sprengstoff liegt. Von den späteren Verwendungen in gegenkulturellen und progressiven Bewegungen ganz zu schweigen, denn diese lagen ja nicht im Fokus Sosterics.

Ambivalenzen

Aus meiner Sicht ist die Rolle des Tarot, genau wie die der Esoterik im Allgemeineren und der Religion im Allgemeinsten, immer ambivalent und voller Widersprüche — mehr noch als bei ausdifferenzierteren Systemen wie Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft. Das Tarot ist anschlussfähig an progressive, konservative, reaktionäre, revolutionäre und biedermeierlich-eskapistische Denkweisen.

Am Ende des Aufsatzes geht Sosteric in einer Art Forschungsausblick hierauf ein — ohne aber seine vorherige These zu adaptieren oder zu revidieren, was schon fast ein logischer Widerspruch zu sein scheint:

That is, it is not just tarot that becomes a virtual Rorschach suitable for ideological impregnation by whatever ‘special interest’ group happens to come along; rather, spirituality and religion in general represent themselves as suitable for the projection of a political, economic, and other special interests.
(S. 381)

Das Tarot, wie zuvor getan, als klassenelitär zu verdammen, ist so, als würde man „den Roman“ oder „das Aquarell“ einer bestimmten politischen Stoßrichtung zurechnen. Selbst wenn der Roman als bürgerliche Einrichtung gegen das feudale Epos begonnen haben mag, emanzipierte er sich davon und bot auch antibürgerlicher Subversion eine Form.

Fazit

Der Aufsatz ist lesenswert, versammelt eine Menge Material, aber führt letztlich auf eine meines Erachtens zu einengende These. Eine „Soziologie des Tarot“ müsste stärker in den Blick bekommen, welche Funktion ein „Wissensaggregat“ wie das Tarot erfüllt, und inwiefern Freimaurer, Hippies, Life-Coaches und aristokratische Spiritisten diese Funktion jeweils einfärben und für sich vereinnahmen und nutzen. Was ist das Spezifische der „Form“ Tarot? Was stiftet hier Gemeinschaft?

Mit einem hat Sosteric aber auf jeden Fall recht: Hier ist noch viel zu forschen.

Zum Autor

Offenbar hat Mike Sosteric nicht nur einige Aufsätze zum Thema veröffentlicht, sondern selbst auch an spirituellen Praktiken gearbeitet:

My work focuses on historical and contemporary analysis of human spirituality, religion, mysticism, mystical experience, and its powerful and transformative potential. […] I am specifically concerned with developing a decolonized and authentic form of spirituality and a spiritually sophisticated form of psychology.

An dieser Stelle fragt man sich, wie so oft, ob Religionsforschung nun besser von gläubigen oder von nichtgläubigen Menschen verrichtet werden sollte … Hierzu schreibt er im Aufsatz:

Just as many other scholars use experience to develop scholarly insight, my experiences with tarot, mysticism, and gnostic traditions, have lead me to new sociological understandings.
(S. 382)

Unter seiner Mitwirkung entstand jedenfalls „his own critically oriented tarot deck, the Halo/Sharp deck“. Einige Abbildungen finden sich bei aeclectic.net.

Literatur

Das Literaturverzeichnis liest sich wie eine Tour-de-Force durch Esoterik und Soziologie, von Peter Berger und Annie Besant zu Aleister Crowley und Michel Foucault. Wouter Haanegraff (bekannt durch „Western Esotericism — A Guide for the Perplexed“* ) taucht ebenso auf wie Durkheim, Elias, Freud, Simmel, Weber und Co.

Mehrere Neuentdeckungen warten aber auf eher soziologisch als magiehistorisch geschulte Leserinnen, etwa Inna Semetsky („Symbolism of the Tower as abjection“) und Marcello Truzzi („Towards a Sociology of the Occult: Notes on Modern Witchcraft“).

Abstract & Bibliographische Angaben

Hier das Abstract:

This article attempts to establish a sociology of the occult in general, and a sociology of the Western tarot in particular. The tarot is a deck of 78 cards invented in Italy in the fifteenth century. From humble beginnings as a device for gaming or gambling, the tarot became invested with occult, mystical, divine, spiritual, and even psychological significance.

This investing became part of a larger strategy of discipline and indoctrination to ease the transition from preindustrial structures of power and authority to industrial and bureaucratic structures. That tarot, associated as it was with the emergence of elite Freemasonry, helped provide new ideologies of power and ways of existing within new tightly structured, bureaucratic organizations.


Sosteric, Mike. “A Sociology of Tarot.” The Canadian Journal of Sociology / Cahiers Canadiens de Sociologie 39, no. 3 (2014): 357–92. http://www.jstor.org/stable/canajsocicahican.39.3.357.

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