Dieser kurze Abriss einer Geschichte des Tarot beansprucht keine Vollständigkeit: Das Ziel ist, einen Überblick über die spannende Geschichte des Kartendecks zu liefern.
Vor der Renaissance: Die mythischen Ursprünge
Um das Tarot ranken sich diverse Ursprungslegenden. Die wirkmächtigste — die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert weite Verbreitung fand — bezieht sich auf das antike Ägypten: Die Priesterkönige sollen ihr umfassendes Wissen über das Universum, die Sterne und auch die geheimen Lehren ihrer Einweihungskulte in einer esoterischen Schrift niedergelegt haben. Dieses „Buch Thoth“, das sich auf den ägyptischen Weisheitsgott Thoth bezieht (eine Art Hermes-Figur), wurde zur Inspiration für spätere Theorien und Schriften — etwa für Aleister Crowleys Tarot-Buch und das von ihm und Frieda Harris gestaltete Deck. Andere Theorien verorten den Ursprung der Karten in Indien, von wo aus fahrendes Volk sie nach Europa gebracht haben sollen.
Und auch die (fiktive) Geschichte des Tarot kommt nicht ohne Hinweis auf Atlantis aus: Statt der Priesterkaiser sind es in dieser Theorie die Priester und Mystiker der untergegangenen Inselstadt, die ihr magisches Wissen in symbolischen Bildern niedergelegt haben. Von dort aus soll es verschiedene Wege genommen haben (u.a. auch den Umweg über Ägypten), bis es seine heutige Form eines Kartenspiels erhielt.
Renaissance
Gesichert sind die Ursprünge des Tarot seit etwa dem 15. Jahrhundert — und auch ein Ursprung des Namens: Die frühesten bekannten Karten stammen vermutlich aus dem Italien dieser Zeit und wurden als „Tarocchi“ bezeichnet. Sie erfüllten aber weder eine Weissage- noch eine spirituelle Rolle, sondern waren wohl reine Spielkarten.
Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts scheint es mit dem Visconti-Sforza-Tarot eine Fassung zu geben, die der heutigen bereits sehr nahe kommt — 78 Karten mit einer ungefähren Verteilung wie die heutigen Decks. Die Wikipedia hat einige Abbildungen der Decks, und es gibt auch einige (teilrekonstruierte) Versionen käuflich zu erwerben (Amazon*).
Die Frühmoderne: Antoine Court de Gébelin
Im 17. und 18. Jahrhundert verbreitete sich das „Tarot de Marseille“, ein Standard-Deck mit 78 Karten. Und im 18. Jahrhundert liegen auch die Wurzeln der esoterischen Interpretation des Tarot: Der französische Pastor und Okkultist Antoine Court de Gébelin war einer der ersten, der das Tarot in einem Essay seiner „Monde Primitif“ (1773) als ägyptischen und mystischen Ursprungs beschrieb. Seiner Erzählung nach (die leider ohne jeden Beleg auskommt) gelangte dieses Wissen über die Päpste in Rom nach Avignon und damit nach Frankreich.
In einem anderen Essay wird hier zum ersten Mal ein Zusammenhang der 22 Trumpfkarten mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets behauptet — die Korrespondenzen zur Kabbalah sind geboren. Und auch die ersten Weissagungstechniken mittels der Tarot-Karten finden sich in Gébelins Schriften, sodass man ihn als Stammvater aller modernen Tarot-Esoterik bezeichnen kann — auch wenn einige der Beiträge von anderen Autoren stammten.
Moderne: Das okkulte 19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert, der Entstehungszeit des heutigen, „systematisierten“ westlichen Okkultismus, wurden die Korrespondenzen des Tarot mit Astrologie, Kabbalah, Numerologie ausgearbeitet. Entscheidend dafür waren Ideen von Éliphas Lévi Mitte des Jahrhunderts — interessanterweise ebenfalls einem Mann der Kirche. Er verband die 22 Trümpfe (die „Großen Arkana“) des Tarot mit den 22 Pfaden des kabbalistischen Lebensbaums und erwähnte das Tarot in zahlreichen Schriften.
Weniger für das klassische Tarot, aber für die Geschichte der „Weissagungskarten“ relevant sind die „Lenormand-Karten“. Marie Anne Lenormand entwarf Anfang des 19. Jahrhunderts einen Satz mit vermutlich 54 oder 55 Karten — wohl basierend auf dem 1789 veröffentlichten Tarot des Okkultisten Jean-François Alliette, genannt Eteilla. Mitte des 19. Jahrhunderts und nach Lenormands Tod erschien dann ein Lenormand-Deck unter dem Namen „Petit Lenormand“ mit den in Deutschland heute gebräuchlichen 36 Karten (Amazon*, Deck-Datenbank), die dem Skat-Blatt entsprechen.
Während die Lenormand-Karten keine besonderen „Korrespondenzen“ mit esoterischen Systemen aufweisen, arbeiteten okkulte „Geheimbünde“ wie der Hermetic Order of the Golden Dawn sowohl an der Ausarbeitung des Tarot zu einem Kompendium okkulten, esoterischen Wissens als auch zu einem Weissagungs-„Tool“. Dies bereitete den Boden für die vermutlich bekanntesten beiden Tarot-Sätze, um die es im nächsten Abschnitt geht.
Literaturhinweis: Zur Geschichte der westlichen esoterischen Systeme siehe etwa Haanegraffs „Western Esotericism — A Guide for the Perplexed“*, der aber leider nur an wenigen Stellen auf das Tarot eingeht.
Von Waite bis Crowley
Der Anfang des 20. Jahrhunderts markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Tarot mit der Veröffentlichung des Rider-Waite-Smith-Decks (siehe dieses Beispiel in der Deck-Datenbank) — je nach Quelle im Jahr 1909, 1910 oder 1911. Dieses Deck, gestaltet von der Künstlerin Pamela „Pixie“ Colman Smith unter der Anleitung des Okkultisten Arthur Edward Waite und erschienen im Rider-Verlag, war eines der ersten Tarotdecks, das vollständig illustrierte Kleine Arkana enthielt. Waite, ein Mitglied des Hermetic Order of the Golden Dawn, legte großen Wert auf Symbolik und esoterische Bedeutungen, die von Smith im bis heute bekannten und beliebten Jugenstil-Design verarbeitet wurden.
Ca. 1938 bis 1943 entstand dann das nächstbekannteste Deck, ebenfalls als Kooperation eines berühmten Okkultisten mit einer Künstlerin: Aleister Crowley, „The Great Beast“, ersann mit seinem „Buch Thoth“ einen ägyptisch und kabbalistisch inspirierten Kartensatz, den Frieda Harris illustrierte. Crowley, ebenfalls einst Mitglied des „Golden Dawn“ und später Anführer des „Ordo Templi Orientis“ (O.T.O.) sowie der Religion und Abtei „Thelema“, integrierte seine eigene Lesart von Astrologie, Alchimie und Kabbalah in das Deck.
Psychologisierung: C.G. Jung und die Folgen
In den 1940er und 1950er Jahren begann das Tarot auch das Interesse von Psychologen und Akademikern zu wecken, wenn auch in begrenztem Umfang. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung zeigte Interesse an den Archetypen und der Symbolik des Tarot. Obwohl Jung selbst nie intensiv mit Tarot arbeitete, wurden seine Ideen über Archetypen und das kollektive Unbewusste später von vielen Tarot-Praktikern und Autoren aufgegriffen. Eine stichhaltige, evidenzbasierte Rezeption des Tarot in der Psychologie gibt es aber bis heute nicht.
Counterculture, Hippies, New Age
Mit der Beat Generation der 1950er Jahre begann sich eine neue Gegenkultur zu formen, die sich neben alternativen politischen Ideen und Friedensbelangen auch für Bewusstseinserweiterung, Spiritualität, außerchristliche Religionen und Mystik interessierte. Spätestens in den 60er Jahren wurden in der Hippie-Bewegung auch Crowleys Thoth-Buch und andere Tarot-Schriften breiter rezipiert, u.a. in der Hippie-Bewegung (siehe dazu auch „Journeying the Sixites: A Counterculture Tarot“).
Zusammen mit vielen anderen Strömungen und Ideen floß auch die Begeisterung für Kartomantie und speziell das Tarot in die dann neu entstehende „New-Age“-Bewegung ein. Neben Astrologie und Meditation wurde auch das Tarot als Schlüssel zu Selbsterkenntnis, Verständnis fürs Universum und als „Anleitung“ für spirituelles Wachstum angesehen.
Die Wiederentdeckung des Tarot: Stuart R. Kaplan
Ein wichtiger Meilenstein in der Verbreitung und Kommerzialisierung des Tarot war die Entdeckung des 1JJ Swiss Tarot durch Stuart R. Kaplan (1932–2021) auf der Nürnberger Spielwarenmesse 1968. Er erwarb die Lizenz für dieses Deck, schrieb ein Deutungs- und Anleitungsbuch und gründete den Verlag U.S. Games Systems. Durch spätere Publikationen versuchte er, insbesondere Pamela Colman Smith posthumen Ruhm zukommen zu lassen — das Waite-Smith-Deck war bis dahin vor allem als Rider-Waite-Deck bekannt. Zudem schrieb er eine vierbändige Encyclopedia of Tarot.
Die Spätmoderne: Von Marketing bis Spiritualität
Seit den 60er und 70er Jahren hat sich das Tarot von einem Interessensgebiet esoterischer und politisch-avantgardistischer Kreise hin zu einem Massenphänomen entwickelt — und damit auch zu einem Konsumgut. Modelabels, Bekleidungsmarken und Kosmetikhersteller wie Dior, Urban Outfitters und Sephora setzen Tarot heute als kreative Inspiration und „Leitmotiv“ ganzer Kollektionen ein.
Tausende neue Decks wurden über die Jahrzehnte gestaltet, darunter weiterhin auch ein großer Anteil mit politischen Botschaften. Hierunter fallen auch viele feministische Decks. Literatur und Kurse haben zu einer weiteren Verbreitung beigetragen.
Auch die Popkultur hat das Tarot als Motiv aufgegriffen — in Filmen und Serien symbolisieren die Karten oft Mystisches, Geheimnisvolles und Schicksalsträchtiges. Sie enthüllen vielleicht weitere Handlungsentwicklungen oder Veränderungen der Handelnden.
Und in der Zukunft?
Die Zukunft ist weiterhin offen: Momentan aber ist kein schwindendes Interesse am Tarot zu bemerken — die Buchhandlungen und Online-Shops sind voll mit Decks, Literatur und Zubehör. Die Bedeutung des Tarot hat sich aber gewandelt. Und auch das Interesse, sich damit zu beschäftigen, wurde stark individualisiert: Manche suchen in Tarot-Decks ein Sammelobjekt, andere schätzen einzelne Karten als Symbol, wieder andere machen sich auf eine spirituelle oder psychologische Erkundungsreise ins eigene Innere.
Was die Zukunft für das Tarot bereit hält, wissen wohl nur die Karten.