(The original interview in English can be found on my other website.)
Im Oktober sah ich eine arte Twist-Folge über zeitgenössische Hexen und ihre Beziehung zu Kunst und Design. Das hat mich dazu inspiriert, einer der porträtierten Künstlerinnen, Ginevra Petrozzi, einige Fragen zu ihrer Tarot-Praxis und der symbolischen Verwendung von Mystik und Hexerei in ihrer Arbeit zu stellen.
Dabei geht es vor allem auch um das Politische an der Schnittkante von Kunst und Wahrsagerei: Wie kann das Lesen von Zeichen — egal, ob mystisch oder technologisch — zu einem subversiven Akt werden, zu einem Widerstand gegen die Big-Tech-Festlegung unserer Zukunft?
Auf ihrer Website schreibt Ginevra zu ihren Performances (Übersetzung von mir):
„Digital Esoterism erforscht, wie Wahrsagewerkzeuge umgestaltet werden könnten, um ein Gefühl von Agency gegenüber Big Data zurückzugewinnen. Big Data ist im Zeitalter des Überwachungskapitalismus zu einer quasi-magischen Entität geworden, die die Zukunft vorhersagt und programmiert. Die Beschäftigung mit den Ursprüngen der Magie als antikapitalistischem Werkzeug könnte verändern, wie wir moderne Kontrollsysteme wahrnehmen, die oft ohne unsere Zustimmung und unser Wissen unsere Entscheidungen und Handlungen steuern. […]
Ginevra Petrozzi führt Lesungen durch, bei denen sie Tarots in eine digitale Perspektive stellt und digitale Realitäten mit dem Smartphone liest, wie man eine Tarotkarte lesen würde. Anzeigen, die auf dem Google-Suchverlauf basieren, vorgeschlagene Instagram-Posts, die mit Online-Interessen verknüpft sind: Was sagen diese modernen Zeichen, dieser automatisierte Fluss von Inhalten, mit denen Algorithmen unsere Telefone täglich füllen, über uns und unsere Zukunft aus?“
TGde: Wann und wozu benutzt du Tarot in deiner künstlerischen Arbeit?
Ginevra Petrozzi: Ich beginne jede künstlerische Erfahrung als bekennende Tarot-Leserin und leidenschaftliche Liebhaberin von Wahrsagetechniken. Ich versuche, mein Wissen über Symbole und Mustererkennung, das ich beim Kartenlesen erworben habe, auf die Interpretation algorithmischer Inhalte zu übertragen.
Jede derartige Konversation verhandelt immer eine „Bedeutung“ zwischen dem Fragesteller und mir: Ich bringe meine Sensibilität als Leserin mit, der Fragesteller seine eigenen Erfahrungen mit seinem Smartphone. Alles, was durch sein Gerät läuft, hat er dort auf irgend eine Weise “hineingelegt”.
Ein von einer App vorgeschlagener Inhalt kann also durchaus etwas vorhersagen, aber nicht als völlig eigenständige Aussage. Sie muss immer in die richtige Perspektive gesetzt werden – genauso wie bei einer Tarot-Lesung, wo jede Karte in die gestellte Frage oder in das Gefühl der gesamten Lesung eingeordnet werden muss.
Warum hast du Tarot als Werkzeug gewählt? Es scheint mehr um die Praxis des Kartenlegens zu gehen als um die „Struktur“ der 78 Karten.
Die Karten standen am Anfang. Ich war schon immer fasziniert von der Welt der Magie, wie sie von De Martino, Frazer und Federici beschrieben wird. Als ich mich mit den Gesetzen des magischen Denkens und insbesondere der Wahrsagerei beschäftigt habe, wurde mir klar, wie ähnlich diese uralte Welt unserer heutigen Situation ist.
Ich nehme in meiner Kunst dann die Rolle der Hexe an (oder genauer: der Tarot-Leserin), um mich als Vermittlerin anzubieten – zwischen dem Prozess des „Empfangens“ einer Zukunft (die etwa von Automatisierung geprägt wird) und ihrer Interpretation (die dann wiederum die konkrete Gestalt dieser Zukunft ändern kann).
Wie kann das „Kartenlesen“ von Smartphones zu „digitaler Souveränität“ beitragen? Geht es darum, sichtbar zu machen, was der Algorithmus, das Design, die Schnittstellen normalerweise verbergen?
In einer undefinierten Vergangenheit stellte sich “Zukunft” als “Schicksal” dar, als ein vorgezeichneter Weg. Wahrsagerei – die Kunst, die Zukunft durch verschiedene Techniken vorherzusagen – war in diesem Kontext absolut plausibel: Sie erlaubte es, hinter den Vorhang von etwas zu blicken, das bereits entschieden war. Das gab den Leuten ein Gefühl von Handlungsfähigkeit und Kontrolle zurück, die sonst angesichts des Chaos und der Unausweichlichkeit dieses Schicksals erstarrt wären.
Im Zug der Aufklärung wurde die Zukunft dann allmählich zu etwas, das es zu gestalten galt, Handlung um Handlung. Heutzutage verstärken die Versprechen des Neoliberalismus diese Gestaltungsmacht noch, bis hin zur Gestaltungspflicht. In meiner Kunst stelle ich die offene Natur der Zukunft in Frage: Ich behaupte, dass sich die Zukunft immer noch wie ein Schicksal anfühlt, das heute nur von anderen „magischen Agenten” bestimmt wird.
Im Falle unseres derzeitigen Systems sind es Big-Tech-Konzerne, Algorithmen und “predictive networks”, die versuchen, unsere Zukunft zu regulieren und zu fixieren. Das Lesen und Interpretieren der Spuren und Zeichen dieser Agenten wird zu einer Möglichkeit, sich ihrer Herrschaft über unsere Zukunft zu widersetzen.
An welchen anderen Projekten zum Thema „digitale Esoterik“ arbeitest du gerade?
Ich arbeite an einem System von “locked doors”, die digitale Bildschirme abriegeln. Außerdem befasse ich mich mit der Darstellung apotropäischer Dekorationen, die Dämonen fernhalten oder austreiben und normalerweise in der Baukunst oder anderen Bestandteilen von Architektur zu finden sind.
Welche anderen Künstler, die du magst oder die dich inspirieren, arbeiten mit Tarot?
Adelita Husni Bei („The Reading“, Anm. d. Red.) und Valentina Desideri („Poethical Reading“, Anm. d. Red.) sind meine Favoriten und eine wichtige Inspirationsquelle seit dem Beginn meines Studiums.
Ginevra Petrozzi (Website, Instagram) ist eine interdisziplinäre Designerin und Künstlerin, die derzeit in den Niederlanden lebt und arbeitet. Sie schloss 2021 ihren MA in Social Design an der Design Academy Eindhoven ab, für den sie mit Cum Laude, dem Best Thesis Award und dem Gijs Bakker Award 2021 ausgezeichnet wurde. Derzeit erforscht sie die Möglichkeiten von Mystik und Okkultismus in der Landschaft der zeitgenössischen Techno-Politik. In diesem Rahmen hat sie die Rolle einer „digitalen Hexe“ übernommen, die die archetypische Rolle der Zauberin als Heilerin und als politische Rebellin zurückerobert.
Alle Bilder: von Ginevras Website.
Kommentare
Eine Antwort zu „Tarot & Art: Ginevra Petrozzi im Interview“
[…] Die deutschsprachige Übersetzung findet sich auf tarot-guide.de. Dieser Artikel dient der Dokumentation des […]